workflow – Moderne Arbeitswelten in der Seestadt (03/2021)

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garagenverordnung aus dem Jahr 1939 (!), in der eine Stellplatzpflicht für Automobile bei Neubauten vorgeschrieben wurde. Damals war das Ziel, im privaten Bereich den stark wachsenden Automobilverkehr zu fördern. Heute sollte man gegenteilige Ziele haben, nämlich die Reduktion des Autoverkehrs, der den Kreislauf der Zersiedelung und der Zerstörung öffentlicher Flächen ankurbelt. Ich nehme an, das scheitert am Druck der Autofahrer und ihrer Lobbys. Intelligente Mobilität und kurze Wege sind also die Kernthemen. Wie gefällt Ihnen diesbezüglich das Konzept des Stadtentwicklungsgebiets aspern Seestadt? Lassen Sie mich vorab ein Negativbeispiel in Sachen Mobilität bringen, Stichwort Tullnerfeld. Da wurde ein „gut gemeinter“ Bahnhof errichtet. Die Argumente für den Bahnhofbau waren, das Pendeln mit dem Zug zu ermöglichen. De facto ging es aber darum, die Gegend zu erschließen und Menschen den Hausbau zu ermöglich. Dass der Bahnhof weit weg von allem steht und von drei Parkhäusern umringt ist, zeigt das Absurde daran, weil es zu mehr Autofahrten, mehr CO2-Ausstoß und mehr Bodenversiegelung geführt hat. In aspern Seestadt ist das zum Glück anders gelaufen. Hier wurde das Gebiet durch die U2 schon vorab erschlossen. Das ist natürlich ein Riesengewinn in Sachen Nachhaltigkeit, wenn man so den Autoverkehr reduziert. Innerhalb des Gebiets wurde planerisch das Konzept der kurzen Wege verfolgt, und zwar vorausschauend. Geschäfte und die gesamte Alltagsinfrastruktur waren seit Beginn da. Der Immobilienmakler musste nicht durch die Straße gehen und seiner Klientel sagen: „Da wird ein Kaffeehaus hinkommen und hier später einmal ein Supermarkt. Noch steht alles leider leer. Aber das wird super.“ Sondern er konnte

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aspern workflow

Es braucht Zeit, bis sich Räume mit Leben füllen. Entscheidend ist, ob die Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind, dass sich Lebendigkeit entfalten kann. Gernot Wagner

Kompakte Vielfalt. Die Stadt der kurzen Wege macht Platz für Grünräume, anstatt sie zu verdrängen.

Buchtipp: Gernot Wagner, „Stadt, Land, Klima. Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten“. Brandstätter, 200 Seiten, 22 Euro.

sagen: „Schauen Sie, das ist meine Lieblingsbar, hier gibt’s die besten Pizzas und in diesem Kindergarten ist es wirklich schön sonnig.“ So lässt sich ein neues Wohn- und Lebensquartier natürlich wesentlich besser präsentieren. Und darum geht es, um ein attraktives Stadtviertel mit kurzen Wegen zwischen Wohnen, Arbeit und Freizeit sowie einen gesunden Mix an vorhandener Infrastruktur statt leerstehender Geschäftsflächen. Damit kann die notwendige Dynamik hergestellt werden, die es braucht, um Menschen zu verleiten, hierher zu ziehen. Dazu kommen natürlich zertifizierte, gut isolierte Gebäude, ausreichend Grünflächen, Spielplätze usw. Das alles, sprich das Ideal eines modernen Stadtteils, scheinen sich die verantwortlichen Planer und Entwickler in aspern Seestadt gut überlegt und umgesetzt zu haben. Sie sprechen von Dynamik. Und dennoch kommt immer wieder medial die Kritik auf, dass solche Stadtentwicklungsgebiete zumindest in den ersten Jahren etwas leblos wirken. Das liegt in der Natur der neuen Sache. Man kann das Lebendige nicht vom ersten Tag an erfinden und neue Stadtquartiere nicht mit über Jahrzehnten organisch gewachsenen Vierteln vergleichen. Es braucht Zeit, bis sich Räume mit Leben füllen. Entscheidend ist vielmehr, ob die Planer und Entwickler überhaupt die Grundvoraussetzungen dafür angelegt haben, dass sich Lebendigkeit mit den Jahren entfalten kann. Es sollen die unterschiedlichsten Gruppen – Singles, kinderlose Paare, Jungfamilien, Pensionisten – ihre Präferenzen in einem gemeinsamen Raum erfüllen können. Dann gibt es die Chance, dass etwas wächst, das auch in 30 Jahren noch lebenswert ist. Mein Eindruck ist, dass in aspern Seestadt auch diese langfristige Vision berücksichtigt wurde.


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